Guten Abend, liebe feministische Mitmenschen!
Guten Abend, liebe FLINTAQ-Personen! So schön seid Ihr heute alle hier!
Ich schätze mich glücklich, hier und heute eine Rede halten zu dürfen, vielen herzlichen Dank!
Mein Name ist Sereina Gläser, ich bin glühende Feministin und seit vielen Jahren mehrfach chronisch erkrankt. Es kostet mich heute sehr viel Energie und Kraft, hier zu sein. Ich bin feministische Aktivistin, Anti-Ableismuskämpferin, Künstlerin und angehende Therapeutin.
Das diesjährige Motto des fem. Streiks ist «Kämpfe verbinden».
Damit möchten wir vom fem. Streikkollektiv Zürich aufzeigen, dass wir in Zukunft noch intersektionaler zusammenarbeiten und verschiedene Diskriminierungsformen berücksichtigen
wollen!
Zu diesem Anlass möchte ich für ein ganz wichtiges Thema meine Stimme erheben:
Während meines nun seit 20 Jahren von Krankheit stark geprägten Lebens habe ich sehr viel gelitten.
Zudem sind mir leider unzählige Menschen mit dem gleichen Schicksal begegnet und ich musste mich sehr stark mit unserer sozialen, rechtlichen und medizinischen Situation
befassen. Für Euch stehe ich hier! Für uns! Aber auch für alle gesunden Mitmenschen, die uns tagtäglich unterstützen.
Liebe FLINTAQ-Menschen, die Schweiz hat ein gravierendes Problem! Die Schweiz ist erkrankt. Erkrankt an Ableismus.
Das Wort «Ableismus» kommt aus dem Englischen und bedeutet die Diskriminierung, Reduzierung und das Ausschliessen von kranken, beinträchtigen und behinderten
Menschen.
Ableismus ist ein riesiges systemisches Problem und betrifft alle Arten von Institutionen: Das Gesundheitssystem, die med. Forschung, die rechtliche und finanziell-ökonomische
Situation Betroffener, die Berufswelt und das Bildungswesen; unser Kunst- und Kultursystem, Freizeit, Infrastruktur und das ganze soziale Leben.
Seit der Jahrtausendwende nimmt dieses Problem vor allem auf der Ebene der Wirtschaft und des Sozialstaates immer
mehr zu. Laut Bundesamt für Statistik steigt in unserm Land die Zahl der chronisch kranken Menschen immer mehr an. Aktuell sind es bereits 30% der Gesamtbevölkerung. Die von Gebur an behinderten Menschen nicht eingerechnet. Viele davon kämpfen ums Überleben! Hier und heute versuche ich für all diese Menschen meine Stimme zu erheben. Laut und unüberhörbar! Für Menschen mit physischen und psychischen Krankheiten aller Art, sichtbar und unsichtbar. Wir Betroffenen werden aus einem halbwegs normalen Leben in dieser Gesellschaft ausgeschlossen. Wir werden behinderter gemacht, als wir oftmals eigentlich sind. Wir werden nicht mit eingerechnet. Und das auch in linken und alternativen Kreisen. Was ich Euch jetzt erzählen werde, beruht alles auf direkten Berichten von Betroffenen, die es gibt!
Ich wünsche mir eine Schweiz, in der behinderte und kranke Personen selbstverständlicher ins soziale Leben integriert werden. Besonders wünsche ich mir das von Euch, liebe FLINTAQ-Menschen!
Ich wünsche mir eine Schweiz, in der Ableismus nicht mehr als Nebenschauplatz abgehandelt wird und nicht immer erst am Schluss nach anderen Diskriminierungsformen genannt
wird!
Ich wünsche mir mehr Empathie!
Ich wünsche mir von Euch, meine lieben Mitkämpfenden, dass Ihr Euch selber immer wieder fragt, welche Privilegien Ihr habt. Ich wünsche mir von Gesunden weniger Belehrungen und Ratschläge!
Ich wünsche mir eine Schweiz, in der jeder Mensch, der spontan verunfallt oder erkrankt und keine Angehörigen hat, die sich um diese Person kümmern können oder wollen, ohne grosse Umständlichkeiten eine Spitexversorgung bekommt!
Ich wünsche mir eine Schweiz, in der ein junger, gesunder Familienvater, der spontan einen Schlaganfall kriegt, mit Spitex versorgt wird und die ganze Carework nicht einfach so auf seine Frau abgeschoben wird, die gleichzeitig noch das Kind versorgen soll und Geld verdienen muss!
Ich wünsche mir eine Schweiz, in der Menschen mit Rollstuhl endlich mehr Zugang zu allen Gebäuden und Klos bekommen, ohne faule Ausreden, das sei halt zu teuer! Denn fürs Militär und unsere Infrastruktur gibt es offenbar immer genug Geld.
Liebe fem. Mitmenschen, liebe FLINTAQ, ich habe Schmerzen!
Denn es tut mir weh, dass Menschen, die als Frauen gelesen werden, nachweislich als Patientinnen viel weniger ernst genommen werden. Sowohl in unserem Gesundheitssystem als auch in der Forschung! Uns wird nicht zugehört, nicht geglaubt.
Es tut mir weh, dass Menschen mit chronischen Schmerzen oder etwas komplexeren Krankheitsbildern wie dem Chronic Fatigue Syndrome oder Long Covid so oft von vielen Seiten
stigmatisiert und kaputt gemacht werden! Ich habe Schmerzen, weil kranke und behinderte Menschen im Bildungs- und Berufswesen ständig ausgesondert, anstatt integriert werden. Ich wünsche mir, dass wir unsere Fähigkeiten auch einbringen können und geschätzt werden!
Es tut mir weh, dass ich als kranke und verletzte Tänzerin aufgrund meiner Krankheiten kaum irgendwo in der Schweizer Tanzszene integriert werde oder auftreten kann! Obwohl ich immer noch viel zu geben hätte.
Es tut mir weh, dass ich immer wieder Menschen kennenlernen muss, die ihre Krankheit vor ihren Freund*innen und Arbeitsgeber*innen verheimlichen müssen. Als wäre Krankheit ein Verbrechen.
Es tut mir weh, dass Ärzt*innen und Care Worker*innen immer weniger Zeit für ihre Patient*innen bekommen und es dank der Swissmedic immer schwieriger wird, Komplementärmedizin zu erhalten!
Es schmerzt, das potentielle Sozialhilfe- oder IVBezüger*innen ständig als «Schmarotzer» betitelt werden und oftmals ohne Hilfe zurückbleiben. Diese Menschen verarmen im Stillen.
Liebe Freund*innen, ich wünsche mir, dass Ihr endlich aufwacht und mit uns gemeinsam verhindert, dass das Gesundheitssystem in der Schweiz zu einer rein kapitalistischen Zwei-Klassen-Gesellschaft wird. Denn jede Person von Euch kann schon morgen verunfallen oder erkranken!
In diesem Sinne: Feuer und Flamme dem Patriarchat!
Feuer und Flamme für Feminismus und gegen Ableismus!
Die Rede wurde als Eröffnungsrede an der Demonstration am 14. Juni 2022 von Sereina Gläser Gründerin der IAVDI Gruppe (Invisible And Visible Disability Inclusion) gehalten.
IAVDI ist eine Gruppe welche mit dem feministischen Streikkollektiv Zürich für anti-ableistischen Feminismus zusammenarbeitet und auch im feministischen Streikhaus aktiv ist.
Für mehr Infos zur Gruppe und für Beitritt in die moderierte Telegramm Gruppe: schreibt eine E-Mail an se.glae[at]gmail.com.