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Rückblick Bildungstag zu Care-Ökonomie

Am 26. April veranstaltete die AG Bildung des Feministischen Streikkollektivs einen Bildungstag, mit dem Ziel, das Kollektiv intern zum Thema Care-Ökonomie zu bilden. Dafür haben wir Mirjam Aggeler und Simona Isler vom Büro für Feminismus in Bern eingeladen. Das Büro für Feminismus ist ein Kollektiv, das zu feministischen Perspektiven auf Wirtschaft, insbesondere zu unbezahlter und bezahlter Sorgearbeit, forscht und arbeitet.

In einem ersten Theorieblock gab uns Simona einen historischen Überblick. Vor der Moderne, als die Arbeit noch mehrheitlich in Kleingewerben, Landwirtschafts- und Familienbetrieben verrichtet wurde, gab es zwar eine klare Rollenteilung zwischen den Geschlechtern, jedoch waren die gesellschaftlich zugeschriebene Relevanz und der Wert der Arbeit der Frauen genauso hoch wie die der Männer. Die Frau war direkt zuständig für die Erhaltung der Arbeitskräfte des Betriebs (Kochen für Lehrlinge, Gesellen, Familie). In der Moderne entstand eine neue wirtschaftliche Ordnung, basierend auf der Industrialisierung und des Kapitalismus. Historisch neu war, dass Hausarbeit und Erwerbsarbeit zwei geteilte Bereiche wurden. Es entstanden klare Trennungen zwischen öffentlich und privat, Haus und Fabrik, unbezahlt und bezahlt, und schliesslich Frau und Mann.

Diese Entwicklung führte um 1900 zu einer Politisierungsbewegung von Arbeit. Der Begriff, der damals für die sorgende Frauenarbeit, bezahlt und unbezahlt, im Haus und ausser Haus, verwendet wurde ist der der «Hauswirtschaftlichen Arbeit». Eine direkte Folge der Abwertung von Frauenarbeit mit der Verschiebung ins Private war die Professionalisierung der Hauswirtschaftliche Arbeit. Sie wurde zur modernen Berufsarbeit. Es entstanden Hauswirtschaftsschulen, Bäuerinnenschulen und auch Pflegerinnenschulen. Ein Beispiel dafür ist das Pflegi Zürich, eine Pflegerinnenschule mit einem Frauenspital. Es war der Versuch, sorgende Arbeit nicht im Privaten verschwinden zu lassen. Ausserdem war das Pflegi ein Arbeitsort für die ersten Ärztinnen. Zu betonen ist hierbei, dass der Fakt, dass die sorgenden Tätigkeiten klar als Frauenarbeit gesehen wurden, nicht als Problem gesehen wurde.

In den 1970er Jahren war die internationale «Lohn für Hausarbeit»-Bewegung prägend. Es wurde angestrebt, Hausarbeit zu einem Teil der kapitalistischen Ordnung zu machen. Grundlage dafür war die Überzeugung, dass alle Frauen auch Hausfrauen sind, auch wenn sie neben der Arbeit zu Hause einer Erwerbsarbeit nachgehen. Die Lohn für Hausarbeitskampagne war jedoch unter Feminist*innen umstritten.

Die Sorgewirtschaft macht mit Abstand den grössten Teil des Arbeitsvolumens der Schweiz aus (70%).

Im zweiten Theorieblock vermittelte uns Mirjam die Grundlagen der Feministischen Ökonomie. In der klassischen Ökonomie hängt Produktivität vom Arbeitsverhältnis ab, nicht von der Tätigkeit. Wenn eine Person also in einem Unternehmen gegen einen Lohn putzt, ist sie Teil der Volkswirtschaft. Wenn sie aber zuhause putzt, ist sie laut Brutto-Inland-Produkt unproduktiv. In der Feministischen Ökonomie hingegen wird das Zuhause als Produktionsort gesehen. In der eindrücklichen Grafik 1 wird deutlich, dass die Sorgewirtschaft mit Abstand den grössten Teil des Arbeitsvolumens der Schweiz ausmacht (70%). Der Block A umfasst hierbei die unbezahlte Sorgearbeit, B die Erwerbsarbeit im Gesundheits- und Sozialwesen, C die Erwerbsarbeit im Detailhandel und der Gastronomie. Rot umrahmt ist die gesamte Sorgearbeit. Das erschreckende daran: Die gängige Perspektive auf Wirtschaft klammert zumindest A und B, oft auch C, komplett aus! Besonders bedeutsam ist dieser Fakt, wenn bedacht wird, dass gerade FLINTA Personen 80% ihrer Arbeitszeit in A, B und C verbringen.

Warum passt Sorgearbeit nicht in die kapitalistische ökonomische Logik?

In der Güterproduktion sind Steigerung und Optimierung möglich. Ein Auto zum Beispiel kann durch den technologischen Fortschritt immer schneller produziert werden. Eine Produktivitätssteigerung ist hier ohne Qualitätseinbussen möglich. In der Sorgewirtschaft gilt ein anderer Effizienzbegriff. Ein schnelleres Aufziehen von Kindern ist nicht möglich. Kranken- oder Altenpflege kann nicht effizienter werden, ausser auf Kosten der zu Pflegenden oder der Angestellten. In der Sorgewirtschaft gibt es kaum Produktivitätssteigerung. Und: Schlechtere Dienstleistungen im bezahlten Bereich der Sorgearbeit müssen von den Haushalten unbezahlt aufgefangen werden – die Arbeit verschiebt sich also nur, sie verschwindet nicht.

Im Verhältnis zu optimiert produzierten Gütern (z.B. einem Computer, der im Vergleich zu früher viel günstiger geworden ist), ist die Pflege ausserdem viel teurer geworden. Je stärker die Automatisierung, desto teurer werden im Verhältnis dazu Dienstleistungen und Produkte, die nach wie vor arbeitsintensiv sind. Die eigentliche Krise besteht in der Finanzierung und Organisation der Sorgearbeit.

Wir nehmen die Entwicklung der Erwerbsarbeit von Frauen unter die Lupe. Dazu schauen wir uns eine aufschlussreiche Grafik genauer an: Die Beschäftigung von Frauen hat in der bezahlten Arbeit stärker zugenommen als die von Männern. Die Beschäftigung in der Industrie hat stark abgenommen, wobei der Dienstleistungssektor (personenbezogen und nicht personenbezogen) stark zugenommen hat. Im Sorge-Bereich hat die Beschäftigung jedoch nur für Frauen stark zugenommen (Balken ganz rechts).

Warum diese Entwicklungen?

Seit den 70er Jahren steigern Frauen ihre Erwerbstätigkeit, wobei die Männer nur wenig reduzieren. Die erhoffte Umverteilung der unbezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern hat nicht wie erwartet stattgefunden. Das Konzept des Ernährerlohns funktioniert seitdem nicht mehr. Ein kumuliertes 100% Pensum reicht nicht mehr, um eine Familie zu ernähren. Unternehmen sehen sich nicht mehr verantwortlich, ihren Angestellten einen Lohn zu bezahlen, der für eine Familie reicht und die unbezahlte Arbeit zuhause so mitzufinanzieren. Gleichzeitig fliessen zeitliche Ressourcen von den Haushalten in den Arbeitsmarkt. Eine weitere Entwicklung, die wie erwähnt in der Grafik abgebildet ist, ist das Wachstum des Sorgewirtschaftssektors, der finanziert werden muss. Auf diese Dynamik hat die klassische Wirtschaftstheorie aber keine Antworten.

Wer Sorgearbeit leistet, wird ökonomisch bestraft.

Ausserdem nimmt die gesamte Arbeitsbelastung der Bevölkerung zu. Insbesondere bei der Betreuungsarbeit gab es eine grosse Veränderung: 2016 leisteten Frauen allein das gleiche Volumen an Arbeit, wie es 1997 von Frauen und Männern zusammen geleistet wurde. Wir können daraus schliessen, dass die Auslagerung von Betreuungsarbeit nicht zu einer zeitlichen Entlastung der Haushalte führte. Frauen und Männer leisten zwar insgesamt ungefähr gleich viel Arbeit, Frauen arbeiten aber mehr unbezahlt. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist eine grosse Einkommenslücke und somit eine Rentenlücke. Wer Sorgearbeit leistet, wird ökonomisch bestraft.

Die Lösungsvorschläge neoliberaler Politik auf die Sorgekrise sind beispielsweise folgende: Sorgearbeit soll an den Markt delegiert werden und nach der Logik von Wettbewerb und Profit organisiert werden. Das funktioniert jedoch nicht, denn dadurch entsteht ein enormer Druck auf die Arbeitsbedingungen von Sorgearbeiter*innen. Ein weiterer Vorschlag: Sorgearbeit soll durch die Pflegebedürftigen eingekauft werden, je nach finanzieller Leistungsfähigkeit. Aber: So werden die Ungleichheiten beim Zugang zu Sorgeleistungen nur noch stärker, als sie es schon sind!

Die feministische Ökonomie liefert andere Lösungen und stellt Care ins Zentrum der Wirtschaft. Das Büro für Feminismus stellt mit dieser Perspektive folgende Forderungen: Wir brauchen einen Ausbau der Erziehungsgutschriften, sowie der Betreuungsgutschriften in der Altersvorsorge. Wir wollen existenzsichernde Renten aus der AHV. Wir wollen einen Ausbau der Mutterschaftszeit. Wir wollen die Einführung einer Elternzeit von mindestens einem Jahr. Wir wollen die Integration der Kinderbetreuung ins Bildungssystem. Wir wollen einen qualitativen und quantitativen Ausbau der öffentlich finanzierten Altenbetreuung.

Im letzten Block des Bildungstages erarbeiteten die 9 Aktivist*innen des Feministischen Streikkollektivs Flipcharts für eine Gesellschaft, die Care ins Zentrum rückt. Wir diskutierten darüber, was es für eine solche Gesellschaft braucht und wie wir sie uns erträumen (Anklicken zum Vergrössern).